Wie lange eine Herde wirklich braucht
Wenn ein wichtiges Herdenmitglied stirbt, besonders wenn es über Jahre ein zentraler Teil der Herde war, braucht eine Herde sehr lange, um das zu verarbeiten. Letztes Jahr hat uns ein Herdenmitglied verlassen. Es war der Herdenchef und dadurch noch bedeutender. Und es war sehr gut zu beobachten, dass die Herde ein Jahr gebraucht hat, um diesen Verlust zu verarbeiten. Es dauert fast immer ein Jahr, auch wenn ein neues Herdenmitglied dazukommt.
Eine Herde ist heute unter domestizierten Bedingungen von Menschen zusammengesetzt. Sie findet sich nicht selbst. Die verschiedenen Pferderassen müssen miteinander auskommen und zusammenleben. Dazu kommen traumatisierte Pferde, weniger traumatisierte Pferde und Pferde, die kaum sozialisiert sind. Gut sozialisierte Pferde sind selten. Wenn man solche Tiere in der Herde hat, hat man Glück und sie haben dann wirklich alle Hufe voll zu tun, die anderen mitzutragen.
Die meisten Pferde sind schlecht sozialisiert, weil sie viel herumgereist sind, schlechte Erfahrungen gemacht haben, sich gar nicht mehr integrieren wollen, schon als Fohlen keinen Anschluss gefunden haben, aus Einzelhaltung kommen oder aus anderen Missständen. Viele wurden zu früh abgesetzt und dann nur in einer Absetzergruppe gehalten. Die meisten Pferde haben nie eine stabile Herde erlebt. Viele standen nur mit der Mutter in der Box, waren vielleicht im Sommer einige Stunden auf der Weide und wurden dann abgesetzt und später wieder in reine Jungtiergruppen gesteckt, bis es zum Einreiten ging. Danach wieder Box. Unter solchen Bedingungen ist es unwahrscheinlich schwierig, diese Tiere später in einem Offenstall zu integrieren.
Und wenn man dann das Glück hat, wenigstens ein paar gut sozialisierte Pferde zu haben, tragen diese die ganze Herde. Aber meistens gibt es in modernen Pferdehaltungen keine gut sozialisierten Pferde und vor allem keine über Jahre gewachsene Gruppe. Pferde werden ständig umgestellt. Neue kommen dazu, andere gehen weg. Monat für Monat wird alles auseinandergerissen.
Wenn man dagegen seine eigene stabile Herde zu Hause beobachtet, sieht man, dass sie ein Jahr braucht, um ein neues Mitglied wirklich zu integrieren. Ein Jahr, um den Tod eines wichtigen Mitglieds zu verdauen. Ein Jahr, bis sich alles wieder beruhigt hat und alle ihren Platz gefunden haben. Erst dann sieht man keine überraschenden Verhaltensänderungen mehr, die durch den Verlust oder den Zugang ausgelöst wurden.
Und wir wundern uns, dass Pferde Magengeschwüre haben, Stoffwechselprobleme, Narkolepsie und viele andere Erkrankungen. Was für einen Stress haben diese Tiere, wenn sie niemals eine stabile Gruppe erleben dürfen, obwohl genau das für ihr Nervensystem, ihren Stoffwechsel, ihren Körper und ihre Seele überlebenswichtig wäre.
Ich bin immer wieder erschrocken darüber, dass Pferde diese Lebensumstände überhaupt so gut mitmachen. Und dann wundert man sich, dass sie krank sind. Alle sind krank. Und ich habe nicht das Gefühl, dass jemand bereit ist, die tiefen Ursachen dieser Problematiken überhaupt zu sehen.